Ein Brief über die Zeit

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Meine liebe Urenkelin,

ich weiß nicht, wie du einmal heißen wirst, aber ich denke oft an dich. Wie gern würde ich dir von uns und von unserem Leben erzählen! Jetzt hat Gundolf, mein Mann, dein Urgroßvater, beschlossen, eine Zeitkapsel an dich zu senden: aus dem Jahr 2030 in eine unbekannte Zukunft. Wir werden ein dickwandiges Keramikgefäß im Keller in die Wand einmauern – wenn du das liest, hast du den Hinweis in den Familienaufzeichnungen gefunden und die Zeitkapsel geöffnet. Ich hoffe, das Spielzeug und die Ausschnitte aus unserer Regionalzeitung haben die Jahrzehnte gut überstanden. Und ich hoffe auch, dass du meine Schrift einigermaßen entziffern kannst, denn ein wenig wackelig sind meine Buchstaben schon. Gundolf will auch noch einen USB-Stick mit Bildern in die Zeitkapsel legen, aber diese Datenträger sind viel weniger verlässlich als das gute säurefreie Papier, das die jungen Leute in der Kooperative herstellen, und wahrscheinlich benutzt ihr in eurer Epoche irgendwelche Kristalle – ich hoffe wenigstens, dass ihr nicht wieder auf Tontafeln schreibt!

Genau darum ist es uns, mir und Gundolf, im Leben immer gegangen: Unheil von euch, den Nachkommen, abzuwehren, euch eine einigermaßen intakte Welt mit einer funktionierenden Umwelt und einer freundlichen Gesellschaft zu hinterlassen. Ob uns das letztlich geglückt ist, kann ich nicht sagen, aber wir haben uns bemüht.

Du musst dir vorstellen, dass in unserer Zeit, am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts, lange ein heilloses Durcheinander herrschte. Jeder wollte einfach alles haben. Die Leute stopften sich ihre Wohnung mit allem möglichen Kram voll, Sachen, die ihnen irgendwie gefielen, die sie aber nur selten oder gar nicht benutzten. Meine Mutter, stell‘ dir das vor, hatte mehrere Dutzend Kleider im Schrank hängen und klagte dann, dass sie einfach nicht wüsste, was sie anziehen sollte. Wer mehr hatte, hielt sich für einen besseren Menschen… Und jeder hetzte sich ab, um die Freunde und Nachbarn zu übertrumpfen. Das ging so weit, dass wir mit den Abgasen unserer Industrie, unserer Autos, unserer Häuser das Klima ruinierten. – Und mit der täglichen Hektik unsere Gesundheit. Das war so unglaublich kurzsichtig! Dabei redeten wir immer von der Zukunft!

Irgendwann war es dann wirklich zu viel. Aussteiger hatte es schon früher gegeben, Leute, die aufs Dorf zogen, um dort ein ruhigeres Leben im Einklang mit der Natur zu führen. Der richtige Umschwung kam erst, als die meisten Menschen begriffen, dass es so nicht weiterging, dass diese Lebensweise, wie man damals sagte, „nicht nachhaltig“ war. Wir, Gundolf und ich, demonstrierten damals in Berlin vor dem Bundestag mitten in Zigtausenden – das war ein Fest! Und so wie unsere Eltern den Atomausstieg geschafft hatten, schafften wir schließlich den Ausstieg aus der Globalisierung, dem weltweiten Hamsterrad. Was wir brauchten, wollten wir auch selbst herstellen, und den Rest ausschließlich über fairen Handel heranholen. Früher hieß es, Deutschland sei Exportweltmeister (oder wenigstens zweiter). Das klang sportlich, aber eigentlich wurde unser Land dabei genauso einseitig überzüchtet wie eben Extremsportler – aber den Begriff kennst du wahrscheinlich auch gar nicht mehr.

Schon vorher hatten viele von unseren Freunden eine einfachere Lebensweise eingeschlagen – die Gegner nannten das Konsumverzicht – aber es war so etwas wie ein allseitiges Gesundfasten. Über Jahrzehnte hatte die Werbung uns eingetrichtert, dass das Neue stets das Bessere sei. Einfach lächerlich! All die schönen neuen Erwachsenen-Spielzeuge wurden immer kurzatmiger, gaben immer schneller ihren Geist auf – alle zwei Jahre ein neues Handy! Stell dir das vor! Sogar bei mir dauerte es eine Weile, bis ich begriff, dass das unnötig und alles andere als nachhaltig war. Wenn wir so weiterwirtschafteten, würden wir euch eine Welt mit heißem Klima und voller Elektronikschrott hinterlassen – und schädlichen Chemikalien in der Umwelt, riesigen Flößen von Plastikschrott in den Weltmeeren, Kindersklaven in der Dritten Welt… Noch heute, Jahre später, bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke. Wahrscheinlich habt ihr, meine liebe Urenkelin, immer noch mit den Auswirkungen unserer Unvernunft zu kämpfen….

Es ist unglaublich schwer, sich von einer alten Lebensweise zu verabschieden. So vieles stand damals an: Energiewende, Mobilitätswende, Industriewende, Landwirtschaftswende, Konsumwende, Gesundheitswende, Siedlungswende, Medienwende. Du kannst dir nicht vorstellen, wie versessen wir damals – ich schließe mich ein – auf all die kleinen und großen Bildschirme waren! Das musste auf Außenstehende fast so wirken, als wollten wir nichts mehr mit der realen Wirklichkeit, dem blauen oder wolkigen Himmel, dem Regen und dem Sonnenschein, mit der grünenden und blühenden Natur zu tun haben. Gottes vollkommene Schöpfung, das Wort hatten wir fast vergessen. Kein Wunder, dass so viele psychisch erkrankten. Wir, dein Urgroßvater und ich, beschlossen endlich, eine Zeitlang auf digitale Diät zu gehen. Statt zu surfen (wie das damals hieß), spazieren zu gehen – wir entdeckten die Welt um uns wieder. Und wir lernten, Gemüse anzubauen, Hühner und Kaninchen zu halten. Nein, richtige Landwirte wollten wir nicht werden, aber zumindest einen Teil unserer Lebensmittel selbst erzeugen.

Gundolf hat damals herausgefunden, dass er geschickte Hände hat. Holz oder Metall, damit er kann gut umgehen, auch ältere, einfache Geräte repariert er gern – nicht die neurotischen smarten Dinge aus dem frühen 21. Jahrhundert, für die braucht es wirkliche Spezialisten. Ich bin in meinem Beruf geblieben, habe weiter unterrichtet und nebenbei für unsere „Dorfzeitung“ geschrieben, sogar für die virtuelle, den lokalen Blog, falls du noch weißt, was das ist, aber von dem habe ich nichts, was ich dir in die Zeitkapsel legen könnte. Ich habe die Leute in unserer Siedlung zusammengebracht, eine Austauschplattform für Dinge und Gedanken organisiert, einen Laden aufgebaut, mich nebenbei noch mit der Geschichte von Genossenschaften befasst, bin zu überregionalen Treffen gefahren, wo wir unsere Erfahrungen austauschten und Kontakte herstellten. Die Globalisierung der Konzerne, mit den weltweiten Waren- und Finanzströmen haben wir weit hinter uns gelassen, unser Vorbild ist die Natur mit ihren Kreisläufen. Und wir reisen viel weniger, schon weil Fernreisen vor allem solche mit dem Flugzeug so extrem teuer geworden sind, aber auch weil wir die Umwelt schonen wollen. Die Verbindung mit unseren Freunden in Europa und auf anderen Kontinenten haben wir aber nicht abreißen lassen. Man kann so viel von Gleichgesinnten lernen! Und selbstverständlich halten wir unsere Grenzen offen für Menschen, die vor Gewalt und Klimakatastrophen fliehen wie jetzt gerade die Leute aus der Karibik.

Im Vergleich zu der Zeit um die Jahrhundertwende ist Deutschland insgesamt bescheidener geworden, nicht zuletzt weil der Staat viel weniger Steuern einnimmt. Du musst dir vorstellen, dass man damals Milliarden über Milliarden in Megaprojekten – Flughäfen, unterirdische Bahnhöfe – versenkte, die doch nie fertig wurden! Zeitweise strebte Deutschland sogar einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an! Und immer wieder ließ sich unser Land in Friedensmissionen – also Militäreinsätze – verwickeln, die kaum je Frieden brachten. Aber ich muss gestehen, dass ich nie sonderlich viel von Weltpolitik wissen wollte, zu verworren und unübersichtlich und unappetitlich waren mir die Auseinandersetzungen um Macht und noch mehr Macht. Trotz all der Online-Medien mit ihrem nicht enden wollenden Strom von Push-Nachrichten, Posts und Streaming-Angeboten hatte ich permanent den Eindruck, dass mir wichtige Puzzlestücke fehlten. In unserer Siedlung und in der Region kenne ich die Leute, auch die gut vernetzten Strippenzieher, und ich weiß, was ich von wem zu halten habe. Für das Land setze ich nicht auf die Parteien, die wie Gundolf meint, immer noch nötig seien, sondern auf die Vereine, in denen ich Mitglied bin, und auf die lockeren Zusammenschlüsse für gerade brennende Themen und ab und zu auf eine Volksabstimmung nach viel Debatte. Aber ich will dir nicht vom politischen Hin und Her unserer Zeit berichten, das ist, bis du einmal groß bist, lange vergessen oder steht in den Schulbüchern, falls ihr noch welche benutzt.

Vielleicht hast du den Eindruck, dass ich doch etwas übertreibe. War denn früher wirklich alles schlechter? Nein, das will ich nicht behaupten. Siehst du, ich habe immer versucht, gesund zu leben, mich auch viel an der frischen Luft, in unserem schönen Garten bewegt, aber mit dem Alter kommen die Zipperlein. Wir haben in unserer Siedlung ein Ärztepärchen, die kümmern sich wirklich rührend um uns, sprechen lange mit ihren Patienten – nicht wie früher: schnelle Diagnose, schnell ein Rezept, schnell wieder raus… Aber wenn es um eine aufwendige Untersuchung geht, muss ich oft Monate auf einen Termin warten, manche Arzneimittel sind knapp, vor allem solche, die importiert werden müssen. Früher habe ich auf Naturheilkunde – auch meine eigenen Kräuter – geschworen, aber jetzt weiß ich, dass das nicht genügt, und manchmal wünsche ich mir fast die alte High-Tech-Medizin zurück. Das Leben steckt eben voller Widersprüche!

Aber ich will nicht jammern. Die Sonne sinkt, Gundolf stellt schon das Abendessen auf den Tisch. Ich gehöre zu einer glücklichen Generation: Wir haben nie einen Krieg erlebt, nie eine Hungersnot, nie eine der Katastrophen, die andere Weltregionen heimsuchen. Und ich habe zwei Töchter großgezogen, drei Enkelinnen bekommen, Gundolf lästert immer: reines Matriarchat! – Irgendwann erblickst auch du, meine geliebte Urenkelin das Licht der Welt!

Ich wünsche dir so sehr, dass du dann eine grüne und blühende, sonnige und freundliche Welt vorfindest!

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Auszug aus dem Buch "Deutschland Neu Denken - Acht Szenarien für unsere Zukunft" von Klaus Burmeister, Beate Schulz-Montag, Alexander Fink und Karlheinz Steinmüller. Der Brief diente der Illustration des dritten Szenarios "Bewusste Abkopplung - Chancen und Gefahren eines deutschen Sonderwegs".

Schöne Neue Welt